Oft sucht man sie. Mit Glück findet man sie. Und manchmal stolpert man regelrecht über sie. Kanadas magische Orte. Ganz ehrlich, viel erwarte ich nicht, als ich im März mit der Schöffel-Crew zum Head-Smashed-In Buffalo Jump unterwegs bin. Ja, eine touristische Attraktion in Südalberta, aber jenseites der Nationalparks und mitten im Winter. So denke ich. Aber dann kommt alles anders.
Text und Fotos: Rainer Schoof


Im Grunde fängt es ja schon mit der Fahrt an. Am frühen Morgen starte ich in Banff. Mitten im März, mitten im Winter in den Rocky Mountains. Mir zur Seite sitzt Reisejournalist Ole Helmhausen. Zusammen machen wir uns auf den Weg und nehmen zunächst die Schotterpiste hin zum Lougheed Proncial Park unter die Räder unseres SUVs. Vorbei an den zugefrorenen Spray Lakes. Es sieht traumhaft aus und vermittelt den Eindruck von absoluter Einsamkeit. Obwohl es eigentlich gar nicht einsam ist, denn auf den endlosen Schneeflächen über dem Eis der Seen sieht man immer wieder die bunten Hüttchen oder Zelte von Eisanglern. Und einige Schlittenhundeteams sind auch unterwegs auf den Seen. Sieht schon toll aus. Beeindruckt bin ich auch von den doch einigen immer mal wieder rechts und links von der Schotterpiste geparkten Autos. Ja, die Kanadier sind ein Outdoor-Volk. Natürlich sind sie im Winter hier draußen und bewegen sich an der frischen, klaren Luft - in diesem grandiosen Winter-Wunderland um uns herum!

Ganz klar, die Fahrt vorbei an den Spray Lakes im Winter ist eine Geschichte, die auch noch erzählt werden muss. Die so typische Winteridylle Kanadas soll für diesen Reisebericht aber nur als Kontrast dienen. Zu dem, was kommt. Denn heute wollen wir in den Süden Albertas, zum Head-Smashed-In Buffalo Jump. Unser Plan, durch den winterlichen Lougheed Park zu fahren, geht nicht auf. Am Parkeingang ist die Straße gesperrt. Der Schnee wurde hier schon seit längerem nicht mehr weggeräumt. Echt schade. Naja, also zurück auf die "normalen" Highways und dann westlich vorbei an Calgary. Glücklicherweise sind wir heute die Vorhut der Schöffel-Shooting-Crew und können die Unpassierbarkeit der Route rechtzeitig durchgeben. Ach ja, stimmt, wir sind gerade mitten im zweiten Fotoshooting mit Schöffel in Kanada. Und Cheffotograf Michael Müller hat sich in den Kopf gesetzt, auch Winterbilder ohne Schnee zu bekommen, die bildlich ein bisschen mehr die Übergangszeit zwischen Winter und den anderen Jahreszeiten vermitteln. Eine Herausforderung für mich. Und ganz ehrlich, ich hätte nicht gedacht, dass Albertas Süden mir genau das auf so beeindruckende Weise ermöglichen würde.

Zunächst also weiter auf Asphalt, auf dem Cowboy Trail. Immer weiter gen Süden - der Schnee ist schon lange weg. Autos kommen uns auch keine mehr entgegen. Irgendwann halten wir mal mitten auf der Straße an - es kommt ja keiner! Und wir glauben es kaum: Man muss eigentlich keine Jacke anziehen. Für die paar Minuten Fotostopp geht's sogar im T-Shirt! Wir stehen mitten auf der Straße - es ist fast mucksmäuschenstill. Man hört nur ein paar Vogelrufe und - ja, tatsächlich - Insekten! Was ist das denn jetzt hier? Winter, Herbst, Frühling?

Untergebracht habe ich die Schöffel-Crew und uns im Ramada Hotel vor den Toren des unscheinbaren Örtchens Pincher Creek, gut 50 Kilometer nördlich von Waterton im gleichnamigen Nationalpark. Nettes Hotel. Nichts Besonderes, aber sehr sauber und supernettes Personal. Ein Hotelrestaurant gibt es nicht, aber direkt nebenan ist ein PizzaHut - die abendliche Verpflegung ist gesichert. Ein großer Walmart ist auch gegenüber. Kommt mir gelegen, denn ich muss mir dringend noch ein Hemd kaufen. Bin ja mit meinen Skiklamotten völlig falsch eingekleidet für die unerwartete Witterung!

Dann aber wieder zurück auf die Straße. Denn wir wollen noch heute zum Head-Smashed-In Buffalo Jump, um die Gegebenheiten vor Ort für das morgige Schöffel-Shooting zu erkunden. Über den Highway sind es knapp 70 Kilometer von Pincher Creek aus, doch natürlich wählen wir die knapp 20 Kilometer kürzere Schotterpiste Route 785. Und das lohnt sich. Süd-Alberta, wie es sein muss! Prärie so weit das Auge reicht, besänftigt durch hinwegrollendes Hügelland. Und dann die Maultierhirsche. Gefühlt sehen wir alle paar Meter die hochstehenden Ohren aus dem Gras emporragen. Und dann springen sie auch schon los - in hohen Bocksprüngen. Toll.

Wir biegen in die Einfahrt des Head-Smashed-In Buffalo Jump Historic Site. Es ist Abend geworden und natürlich ist das in den Felsen gebaute Interpretive Centre längst geschlossen. Aber es gibt einen Pfad entlang am Fuß des Felsens. Und der ist auch jetzt noch zugänglich. Also parken Ole und ich schnell das Auto direkt oben vor dem Centre - und marschieren los, durch die hügelige Gras- und Buschlandschaft. Im Schatten der Abbruchkante des von unten mächtig wirkenden Felsens.

Es dauert einen Moment, bis ich den Ort wirklich erfasse. Vielleicht liegt es daran, dass ich ihm bislang nie große Bedeutung beigemessen habe. Aber jetzt und hier ist es irgendwann soweit - der Felsen ergreift mich, nimmt Besitz von meinen Gedanken. Was macht er eigentlich hier, der Felsen? Was hat eine solche Abbruchkante dieser Länge mitten in der flachen oder höchstens leicht hügeligen Prärie zu suchen? Natürlich weiß ich, dass es gerade in Süd- und Ostalberta eine ganze Reihe solcher Felsabgründe, solcher Jumps, gibt. Aber dieser Gedanke kommt mir im Moment gar nicht. Jetzt und hier wirkt dieses massive Felsgebilde irgendwie unwirklich, irgendwie entrückt. Hervorgehoben aus der Weite drumherum.

Mystisch - ja, irgendwie. Man kann gar nicht anders als sich vorzustellen, wie die frühen Blackfoot diesen Ort verehrten, weil er es ihnen ermöglichte die großen Büffelherden in Panik zu versetzen und auf den Abgrund zuzutreiben. Bis es kein Zurück mehr gab für die trabenden Kolosse. Fast hört man noch die Schreie der in die Tiefe stürzenden Tiere. Und unten wartete der Rest des Stammes. Für den Gnadenstoß. Nahrung für ein Jahr. Leben für die Blackfoot. Ein riesiger Friedhof für die Büffel.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich stehen geblieben bin und schon die ganze Zeit hoch zur Abbruchkante blicke. Glaube ich denn wirklich, dass sich gleich noch ein Bison von da oben verzweifelt in den Tod stürzt? Also, sicher ist, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Vielleicht auch, weil ich hin- und hergerissen bin zwischen Schrecken und Mitleid für die Bisons auf der einen und Verständnis für die First Nations auf der anderen Seite. Im Nachhinein glaube ich sogar, dass dieser Widerspruch die Magie des Ortes mitbegründet. Ein Widerspruch, der nicht aufgelöst werden kann, der einfach da ist und dazugehört. Das Mystische an diesem Ort kommt aus seiner Vergangenheit. Schon lange gibt es hier im Süden keine Bisonherden mehr. Nur dieser mächtige Felsen ist hier stehengeblieben. Wie ein Mahnmal. Wie eine steingewordene Erinnerung. Und erst wenn man sich traut, den Blick vom Felsen abzuwenden und über die Weite des Flachlandes nach Westen schweifen zu lassen, wird klar, wie besonders dieser Ort auch landschaftlich ist. Denn dort im Westen stehen sie, die mächtigen Dreitausender. Einfach so erheben sie sich aus der Ebene. Wie eine gigantische Wand an dieser einzigartigen Schnittstelle zwischen Prärie und Rocky Mountains.

Ich stehe immer noch da und lasse alles auf mich wirken. Ole ist schon weit weg. In der Ferne sehe ich gerade noch das Rot seines Peyto-Rucksacks durch die Zweige eines Busches schimmern. Mir dämmert, dass dieser Ort in diesem Augenblick so besonders auf mich wirkt, weil ich ganz allein bin. Weil einfach niemand hier ist, der mich von der Wirkung dieses Ortes ablenkt. Bin wirklich froh, dass wir heute noch hergefahren sind. Ist ein besonderer Moment. Blöd, dass ich nur mein Handy und nicht meine Kamera mitgenommen habe. Morgen zum Foto-Shooting wird es bestimmt nicht so faszinierend.

Ein Irrtum. Oder zumindest nicht die ganze Wahrheit. Sicher war es ein besonderer Moment, so ganz allein an diesem bedeutungsvollen Felsen den Tag schwinden zu sehen. Aber heute Morgen bei strahlendem Sonnenschein gewinnt der Ort landschaftlich. Die Rockies im Westen sind viel besser zu sehen. Sie strahlen richtig. Und die Weite der Prärie wirkt gen Osten unendlich. Man meint am Horizont die Erdkrümmung ausmachen zu können.
Und diese seltsame Märzwärme - 15 Grad sollen es heute werden! Der Dress-Code ist Hemd. Auch die Schöffels machen Aufnahmen im Hemd oder mit leichten Jacken. Alle sind begeistert von diesem Ort. Selbst Cheffotograf Müller lächelt zufrieden. Alles andere als selbstverständlich, wie ich inzwischen weiß. Es läuft. Alles klappt. Alle sind entspannt. Das gibt mir Zeit, mich ein wenig intensiver mit diesem Ort zu beschäftigen.

Inzwischen ist der Tagesbetrieb im Interpretive Centre gestartet. Eine neue Facette - die Ausstellung ist wirklich sehenswert. Und auch das Gespräch mit dem Blackfoot-Ältesten Conrad ist beeindruckend. Ich verstehe, dass dieser Ort seine Wichtigkeit für die Ureinwohner immer behalten hat. Gerade auch in den noch gar nicht so weit entfernten Zeiten des Leids, als durch die Residential Schools Kinder aus ihren Familen gerissen und in eine völlig neue Kultur gezwungen wurden. Das aus dem Munde eines Elders zu hören, rundet es für mich ab. Ich bin froh, noch einmal hergekommen zu sein.

Der Head-Smashed-In Buffalo Jump ist ein magischer Ort für mich. Ja, irgendwie anders als die Plätze, über die ich in dieser Rubrik bisher berichtet habe. Die Magie dieses Ortes gründet nicht allein auf der Wucht der Natur, obwohl das geografische Zusammentreffen von Prärie und Rockies sicher das Zeug dazu hat. Nein, es ist komplexer. Es ist eher das Zusammenspiel aus Natur und der Geschichte einer alten Kultur, einer vergangenen, aber noch spürbaren Spiritualität, die Leben und Tod nicht als Widerspruch, sondern als eins sah. Ich werde wohl wiederkommen. Gern im März oder April!