Die Farben der Weite
Beitrag zum Textwettbewerb 2022
Autor: Johannes Zopf

Dempster Highway: Die Farben der Weite

Etwa 405 Kilometer sind es vom Beginn des Dempster Highways bis zum Polarkreis. Der Dempster zweigt am Weg von Whitehorse, der Hauptstadt des Yukons, zur ehemaligen Goldrauschstadt Dawson City vom Klondike Highway ab. Hier empfiehlt die Milepost, die Bibel aller, die weit ab der üblichen Tourismusrouten noch etwas rar gewordene Abenteuerluft schnuppern wollen, unbedingt ein letztes Mal aufzutanken. Ein Informationsschild informiert über die Geschichte des Dempster Highways und die First Nations, durch deren Land die Straße auf ihrer Reise bis zum arktischen Ozean führt.

Ein erstes Zeichen, am Rand der Welt angekommen zu sein, war der Schilderwald, der vor der Benutzung der Straße warnte. Ihr seid auf euch selbst gestellt, sagte das Schild. Keiner schafft den Dempster ohne einen Platten, sagten das Internet, die Reiseführer und auch die Einheimischen. Und hier waren wir mit einem Wohnmobil, für das man zuhause einen LKW-Führerschein benötigt.

Zu Beginn führt der Dempster Highway über eine hellblaue Brücke und wenige Kilometer asphaltierte Straße, gesäumt von dichtem grünem Mischwald. Dann bleibt er eine ewige staubige Schotterpiste bis kurz vor dem arktischen Ozean. Der Dempster wurde auf Permafrostboden gebaut. Normaler Straßenbau ist nicht möglich. Deshalb erhebt er sich manchmal auch bis zu fünf Meter über dem Boden aus der Landschaft. Leitplanken gibt es nicht, dafür reichlich Schlaglöcher, Gesteinsbrocken und Rillen in der Fahrbahn, die einen auch bei einer Geschwindigkeit von sechs km/h kräftig durchschütteln.

Das nächste Schild: Tombstone Nationalpark. Selbst Anfang Juni war hier der Sommer noch nicht angekommen. Meterdicke Eisplatten bedeckten Flussläufe. Mein Atem gefror in weißem Dunst. Am Campingplatz sah ich meinen ersten Elch. Eine Elchkuh und ihr Kalb durchquerten direkt hinter unserem Stehplatz auf ihren langen Stelzenbeinen einen reißenden Gebirgsbach. Im Plumpsklo las ich den aufgehängten Flyer über Bären. Auch wenn wir auf dem Dempster nie einen zu Gesicht bekommen sollten, waren sie doch da. Immer wieder sahen wir Kot am Straßenrand und Tatzen-Abdrücke im matschigen Boden. Ein Radfahrer, den wir auf der Rückfahrt trafen, erzählte uns von einem riesigen Grizzlybären direkt am Straßenrand, der ihn zur Umkehr gezwungen hatte.

Mosquitos attackierten in der Nacht meine Knöchel und Hände. Soweit nördlich geht die Sonne nicht unter. Als ich um zwei wach wurde und einen Blick aus dem kleinen Fenster meiner Schlafkoje über dem Fahrerhaus warf, war die Landschaft in das eigenartig diffuse Licht der Mitternachtssonne getaucht. Wir starteten um fünf Uhr ohne Frühstück. Die Luft war trotz starker Windböen unglaublich klar. Ich glaubte, auch noch auf den weit entfernten Berghängen einzelne kahle Zweige von verkümmerten Sträuchern ausmachen zu können. Drei Caribou, noch im weiß gefleckten Winterfell, grasten in einem einsamen Tal. Sie ließen sich durch meine begeisterten Quietschlaute nicht stören. Wir beobachteten sie eine Weile durch das Fernglas und setzten dann unsere Reise fort.

Kilometer für Kilometer zog die Straße an uns vorbei. Mal schneller, aber auch sehr langsam. Wir waren abhängig vom Zustand des Highways. Es gibt viele Möglichkeiten, eine Panne auf dem Dempster zu haben. Ein Schlagloch, das ein Rad zerstörte, Steinschlag oder eine Leitung, die sich durch das konstante Ruckeln löst. Wir wären nicht die Ersten, die hier strandeten. Und doch bleibt niemand sich selbst überlassen. Im hohen Norden sind die Menschen sehr hilfsbereit.
Die Landschaft blieb oft eine Stunde lang gleich und veränderte sich dann schlagartig innerhalb von wenigen Minuten. Wir sahen Moorlandschaften, reißende Bäche, die dicke Baumstämme in ihren Fluten mitrissen und eine Gegend, in der Kupfer das Wasser, den Boden und auch die Vegetation Rot färbten. Drei Gebirgsketten durchquerten wir auf unserem Weg zum Polarkreis.

Auf eine starke Steigung der Straße folgte eine Hochebene mit einem unglaublichen Ausblick auf die weite, wilde Landschaft des Nordens, begrenzt von einer gewaltigen Gebirgskette mit namenlosen, wolkenverhangenen Gipfeln. Einige der Berge sahen durch ihre symmetrische Kegelform aus wie Vulkane, die nur darauf warteten auszubrechen und die Landschaft in Schutt und Asche zu legen. Hier machten wir Pause. Der eisige Wind rüttelte uns während des Essens durch und machte es unmöglich, längere Zeit draußen zu verbringen.

Ein großes Waldbrandgebiet, das sich bis zum Horizont zog, wartete auf uns in einer Hochebene namens Eagle Plains. Kleingewachsene verkokelte Bäume, soweit das Auge reicht. Wir waren beinahe am Ziel. Mittlerweile hatte ich einen Trucker-Sonnenbrand, ein leichtes Schleudertrauma vom konstanten Geruckel und war von Kopf bis Fuß in feinen Dempster-Staub gehüllt. Unser Wassertank war im unteren Drittel. Hände- oder Gesichtswäsche war nicht mehr drin. Wir hatten unsere ganze Hoffnung auf die in der Mile Post beschriebenen Duschen im Eagle Plains Hotel gesetzt. Zuletzt hatten wir in Whitehorse geduscht. Das war vier Tage her. Es war zu früh im Jahr, sagte man uns Anfang Juni an der Rezeption. Die Duschen hatten nicht offen. In der Lobby saßen Touristen und sahen sich ein Fußballspiel auf ihrem Handy an. Sie waren auf dem Weg nach Tuktoyaktuk und warteten darauf, dass die Fähre über den Mackenzie River öffnete.

Eagle Plains ist ein merkwürdiger Ort. Neben diversen Jagdtrophäen hing ein Bild eines toten Mannes an der Wand. Der Mad Trapper von Rat River, zur Strecke gebracht bei Yukons größtem Manhunt. Über 240 Kilometer legte Albert Johnson mitten im Winter zurück, reiste in den Spuren von Caribouherden und überquerte unwirtliche Gebirgspässe, bis er von der Royal Canadian Mounted Police gestellt und getötet wurde. Eine Geschichte, die selbst Jack London nicht besser hätte schreiben können.

Die letzten Kilometer verliefen relativ eintönig. Vor uns tauchte die letzte Gebirgskette auf - graue Berge mit verschneiten Gipfeln, aufgereiht wie Perlen auf einer Kette. Dann die Abzweigung zum Ziel. Wir waren am Polarkreis angekommen, dem Land der Mitternachtssonne. Ein kleiner Schotterparkplatz, ein Schild, zwei Plumpsklos und zwei Mülltonnen. Wir brauchten das restliche Trinkwasser beim Nudelkochen auf. Der starke Wind machte es unmöglich, länger als ein paar Minuten am Stück draußen zu sein. Unser Wohnmobil wiegte sich leicht im Wind während wir den Tag Revue passieren ließen. Die Hälfte des Weges war geschafft und wir hatten überraschender Weise weder einen Platten noch einen Steinschlag von einem der Trucks abbekommen.

Der Rückweg verschwimmt in meiner Erinnerung zu einer unendlich langen Schotterpiste. Wir trafen ein Stachelschwein und einige Ptarmigans, die Hühnern verblüffend ähnlich sehen, wechselten einen Reifen im Austausch für Schokokekse, verbrachten eine kurze Nacht am grauen Engineer Creek Campground und kamen heil aber komplett verdreckt und mit Lungen voller Dempsterstaub wieder an der Kreuzung zum Klondike Highway an.